Bequem ist er nicht

MARTIN KUNZ - FAIR RUBBER-GESCHÄFTSFÜHRER

Was macht ein 19-jähriger, der seinen Zivildienst im Ausland ableisten will, wenn ihm eine Stelle in Kalkutta im Sterbehaus von Mutter Teresa zugewiesen wird?

In Martin’s case: get dengue fever, criticize Mother Teresa politely and look for a meaningful job (at Canon Subir Biswas and the Cathedral Relief Service for the more than one million Bangladesh refugees in Calcutta). How dare a 19 year old criticize Mother Teresa’s work? In Martin’s case, by looking closely and asking questions: to the leprosy specialist, who explains that patients are newly infected with leprosy when beds are too tight, and Mother Teresa, who says there are too many people in need and no one is turned away . He does not understand why the Order enables many poor to die with dignity just because the vow of poverty prevents medical care and healing.

In 1976, after 18 months in India, Martin returned to Ludwigsburg (on the overland route through Pakistan, Afghanistan, Iran and Yugoslavia …) with a different (very Swabian) insight: If work is paid fairly, there can be a way be out of poverty. It took a few years until this concept, which at that time was in its initial phase in several European countries, became generally known as  fair trade  , but it can still be practiced. Together with a few friends, Martin built the  Third World -Loading in Ludwigsburg – and studied political science and English studies in Tübingen. The world shops were the subject of his doctorate and thus the first dissertation on fair trade.

Was daraus erwuchs, ist eine ganz eigene Sichtweise des Fairen Handels: Auf der praktischen Ebene muss der Faire Handel den Produzenten vor Ort helfen, gleichzeitig müssen neue Käuferschichten und Märkte für fair gehandelte Waren erschlossen werden. Notwendig dazu ist eine analytische Herangehensweise, die den Fairen Handel als Teil übergeordneter Strukturen und Netzwerke sieht.Formal sah das für Martin so aus: Erster Aufsichtsratsvorsitzender des Fair Handelshauses GEPA, Gründungsgeschäftsführer der Dachverbände der Siegelinitiativen Transfair/Fairtrade, Aufbau des Tee-Produzentenregisters, Hilfe beim Aufbau nationaler Fairtrade-Strukturen, von den USA bis nach Japan ... Lobbyarbeit für Fair Trade bei der World Trade Organization (WTO) in Genf und in Hongkong ...Für Martin war klar, dass der Faire Handel sich langfristig weder auf Kleinbauern noch auf Kaffee beschränken konnte. (Die Tatsache, dass er passionierter Teetrinker ist, mag diese Einsicht beschleunigt haben.) Praktisch, direkt vor Ort, analytisch und in Strukturen ... Daraus entwickelte Martin ein universelles Fair Trade-Konzept, das auch für Plantagen und nicht landwirtschaftliche Produkte anwendbar ist. Zentral dafür sind ein von den Mitarbeitern gewähltes Fair Trade-Komitee (Joint Body), das über die Verwendung der Fair Trade-Prämie entscheidet, und eine sinnvolle Formel für die Festsetzung der Höhe der Fair Trade-Prämie: Sie basiert auf dem Konzept eines Fairen Lohns und dem Wert des Arbeitsanteil am Gesamtwert des jeweiligen Produkts. (Ein Beispiel: Selbst bei Milchschokolade ist der Arbeitsanteil der Kakaobauern um ein mehrfaches höher als der Anteil der Zuckerbauern ‒ weshalb Milchschokolade selbst ohne Zucker einen Fairtrade-ARBEITSanteil von mehr als 50% hat).

Das mag trotz allem theoretisch klingen, aber entstanden ist das Konzept durch Reisen zu Produzenten in Indien, Pakistan, Sri Lanka, Tansania, Botswana, Peru, Mexiko, Ägypten ... Gespräche über Orangensaft, Tee, Baumwolle, Gold, Gummi, Diamanten, Fußbälle, Luftballons, Wärmflaschen, Matratzen ... Durch individuelle Begegnungen. Zum Beispiel mit Lal Muthana, damals Manager der Teeplantage Chamraj in den südindischen Nilgiris (Heimat von Mogli aus dem Dschungelbuch, nur damit Sie sich die Landschaft vorstellen können, Kipling, nicht Disney...).

Anfang der 90iger Jahre gab es vermutlich in der gesamten indischen Teeindustrie nirgends bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Teearbeiter als in Chamraj, von der mehrzügigen Schule bis zum plantageneigenen Krankenhaus in dem Patienten aus der gesamten Umgebung (gegebenenfalls auch operativ) behandelt werden konnten. Er sehe nicht, wie Fair Trade-Gelder auf Chamraj noch etwas verbessern könnten, sagte Martin am Ende seines Besuchs. Im Moment sei das richtig, erwiderte Lal, aber er betrachte die Zukunft der Teearbeiter mit Sorge: die staatliche Altersversorgung reiche nicht aus, dank der guten Schule in Chamraj würden viele der Kinder Colleges besuchen oder studieren. Lal Muthana sah außerdem die weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen – auch in Indien gilt der Generationenvertrag nicht mehr, Eltern könnten sich nicht mehr darauf verlassen, von ihren Kindern im Alter versorgt zu werden. Aus der Diskussion auf der Veranda des Manager-Bungalows entwickelte Lal die Idee, die Fair Trade-Prämie für eine Lebensversicherung zu nutzen, die jedem Arbeiter beim Eintritt ins Rentenalter ausgezahlt wird. Chamraj war die erste Plantage in Südasien, auf der die Arbeiter eine zusätzliche Absicherung im Alter bekamen. Dank des Fair Trade-Projekts für Gummi wurde die Idee in New Ambadi kopiert: die erste Zusatzrente für Gummizapfer.

Guten und richtungweisenden Entwicklungen wie in Chamraj stand Martins wachsendes Unbehagen an neuen Trends in den Organisationsstrukturen des Fairen Handels in Europa gegenüber. Fair Trade-Produkte waren inzwischen überall zu haben – aber um welchen Preis? Sonderregeln und „Fair Trade light”-Optionen für große Kunden? Hohe Kosten für Fair Trade-Audits. Auflagen für die Produzenten, die Fair Trade-Prämie im laufenden Jahr auszugeben und damit das Aus für langfristige Projekte wie eine Rentenversicherung. Gebühren für die Aufnahme in das Produzentenregister ohne Absatzgarantie ...  fair trade light  options for large customers? High costs for fair trade audits. Requirements for producers to issue the fair trade premium in the current year and thus the end of long-term projects such as pension insurance. Fees for inclusion in the producer register without a sales guarantee …

Ein Schlüsselerlebnis gab es für ihn nicht, aber am Beginn des neuen Jahrtausends stand für Martin fest: „Wenn die Einnahmen der Fairtrade-Organisationen über Lizenzgebühren die Fairtrade-Prämie, die den Produzenten zugute kommt, um ein Vielfaches übersteigt, dann hat das mit Fairem Handel nicht mehr viel zu tun.”

Fairer Handel, aber ohne das Korsett der Siegelinitiativen. Vermutlich liegt hier die Ursache, dass für Martin in offiziellen Fair Trade-Strukturen kein Platz mehr zu finden war, weder im Standardkomitee von FLO, noch bei klassischen Fair Trade-Firmen – wie gesagt: bequem ist er nicht ...

Seit 1998 lebt Martin in London, (wie es dazu kam, ist eine andere Geschichte). Im Land, in dem der Ausdruck „Fair Play” geprägt wurde, entstand (rechtzeitig für die Fußball-WM in Frankreich) die Idee zu einem rundum fairen und umweltfreundlichen Fußball: fair gehandelt, von den Gummizapfern bis zu den Nähern, von der Fair Trade-Latexblase im Ballinneren bis zu den 32 Panelen, die in Handarbeit zu einem Balläußeren zusammengenäht werden.

Etwa 250 Gramm Naturlatex werden für einen Fußball der Größe 5 benötigt (für die Blase, das Ventil und die Laminierung innen) – angesichts der Kapazität eines Gummibaums eine vergleichsweise kleine Menge. Wenn der Faire Handel für Gummizapfer und Arbeiter wirklich einen Sinn ergeben soll, dann müssen alle, die Naturlatex verarbeiten, unter Fair Handels-Konditionen kaufen können, war Martins nächste Überlegung. Die Idee für den Fair Rubber e.V. war geboren.

Die Details regelt das Vereinsrecht. Die Praxis garantiert, dass die Produzenten die Nutznießer des Fairen Handels sind. Wie vielfältig sie die Fair Trade-Mittel nutzen, davon zeugen die Produzentengeschichten. Und die Zukunft? Fair Trade mit Breiten- und Langzeitwirkung – von zusätzlichen Alters- oder Krankenversicherungen bis hin zu einem Wasserprojekt wie dem auf der Plantage Walpola: Wasseruhren und eine geringe Nutzungsgebühr finanzieren nicht nur ein Team, das Wartung und Instandhaltung garantiert, sondern auch das Startkapital für weitere Wasserprojekte. Fair Trade im Schneeballsystem. Für Martin heißt das auch in Zukunft: Hinschauen und Zuhören, Zusammenhänge erkennen, Weggefährten finden und Ideen entwickeln.

Dazu eine Veranda mit Blick über die indischen Berge und einer Tasse Tee ... manchmal gibt es sogar im Fairen Handel perfekte Augenblicke.